Georges Simenon: La Marie du port

  Die Unberechenbare

Da ich im Urlaub gerne Romane aus der Region lese, habe ich mir im Sommer 2023 in Cherbourg La Marie du port des Belgiers Georges Simenon (1903 – 1989) gekauft. Anders als mit seinen erfolgreichen Krimis hoffte er mit seinen, wie er es nannte, „romans durs“ eine neue Stufe in seiner literarischen Entwicklung zu erreichen. Nachdem La Marie du port 1938 in Frankreich erschienen war, wurde es in der Presse wohlwollend besprochen, sein Kollege und Literaturnobelpreisträger André Gide (1869 – 1951) war – mit wenigen Einschränkungen –  begeistert und Georges Simenon selbst höchst zufrieden.

Studien vor Ort
Während eines Aufenthalts im normannischen Fischerdorf Port-en-Bessin im Oktober 1937 hatte Georges Simenon vom Hôtel de l’Europe am Quai Félix Faure einen erstklassigen Blick auf den Fischerhafen und die Drehbrücke, beides zentrale Elemente in La Marie du port.

Port-en-Bessin. © B. Busch

In trister Oktoberstimmung beginnt der Roman mit einem Begräbnis: Jules Le Flem, Witwer und Vater von fünf Kindern, wird unter großer Anteilnahme zu Grabe getragen. Aus Cherbourg ist die älteste Tochter Odile mit ihrem Liebhaber, dem großspurigen Restaurant- und Kinobesitzer Henri Chatelard angereist. Beim Leichenschmaus werden die drei jüngeren Geschwister unter den Verwandten verteilt, die 17-jährige Marie hat bereits eigene Zukunftspläne gemacht:

Je reste à Port.
Qu’est-ce que tu veux faire dans un trou comme Port-en-Bessin? Tu ne trouveras
seulement pas une place…
J’en ai déjà une.
ça?
Au Café de la Marine. (S. 20)

Ein folgenreicher Blick
Aus dem Fenster des Café de la Marine, in dem Marie zukünftig als Serviermädchen arbeiten möchte, hat Chatelard den Leichenzug beobachtet. Fasziniert von Marie, die nur halb so alt ist wie er, würde er sie am liebsten mit nach Cherbourg nehmen. Das resolute Mädchen, das sich von niemandem in die Karten schauen lässt, widersetzt sich in den nächsten Wochen jedoch jedem Annährungsversuch, obwohl Chatelard, der am Begräbnistag planlos ein verunfalltes Fischerboot ersteigert hat, jeden Tag wegen dessen Instandsetzung in Port-en-Bessin auftaucht…

Blick auf die Drehbrücke von Port-en-Bessin. © B. Busch

Zweierlei zeichnet den ungewöhnlichen, überraschend nüchternen Liebesroman für mich aus: einerseits die sehr genaue Beschreibung der Atmosphäre des Fischerdorfs, andererseits die Figur der Marie, deren Absichten sich jeder Einschätzung, sei es für Chatelard, für Odile, für die Bewohnerinnen und Bewohner von Port-en-Bessin oder für uns Leserinnen und Leser, entzieht. Die Unberechenbarkeit dieser willensstarken Geheimniskrämerin macht den Roman interessant und trotz der Handlungsarmut spannend.

Übersetzt und verfilmt
Obwohl Georges Simenon allgemein für seinen beschränkten Wortschatz kritisiert wird, war das Buch auf Französisch für mich eine Herausforderung. Auf Deutsch gibt es den Roman unter dem Titel Die Marie vom Hafen in einer inzwischen vergriffenen Ausgabe von 1989 im Diogenes Verlag, übersetzt von Ursula Vogel, und im Verlag Hoffmann und Campe seit 2019 in der Übersetzung von Claudia Kalscheuer. In der Verfilmung aus dem Jahr 1949 von Marcel Carné spielt Jean Gabin die männliche Hauptrolle, allerdings wurden die in Port-en-Bessin spielenden Szenen im knapp 90 Kilometer entfernt liegenden Saint-Vaast-la-Hogue im Cotentin gedreht, wo es eine ähnliche Drehbrücke und natürlich ebenfalls einen Hafen gibt.

Georges Simenon: La Marie du port. Gallimard 2003
www.gallimard.fr

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